Paul Watzlawicks nie geschriebenes Buch oder die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks

Paul Watzlawick, Pop-Philosoph mit österreichischen Wurzeln, Autor so bekannter Bücher wie „Anleitung zum Unglücklichsein“ oder „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ und Verfasser der sogenannten 5 Axiome, dessen Todestag sich im Jahr 2017, von der Öffentlichkeit wenig beachtet, zum zehnten mal jährte, war ein Mann voller Widersprüche. Souverän bei Vorträgen, scheu bei Interviews. Als erfolgreicher Familientherapeut selbst lange Zeit ledig und bis zuletzt kinderlos. Ein immer auf Distanz bedachter Gentleman, aber auch ein Humorist und leichtfüßiger Anekdotenerzähler – und als Wissenschaftler gerade deshalb vielfach angefeindet.

1960 kommt Paul Watzlawick neununddreißig-jährig als in Zürich ausgebildeter Analytiker nach Kalifornien ans MRI (Mental Research Institute) und erkennt bald, dass der Weg der Psychoanalyse nicht der seine ist. In Palo Alto schließt er sich der „Ketzerei“ (wofür der radikale Bruch mit Sigmund Freud vielfach gehalten wird) an und findet seinen Weg der Therapie: die systemische Kommunikationstheorie, die er infolge wie kaum ein anderer weltweit prägen wird. Er wird zum Mitbegründer der systemischen Kurzzeittherapie und des Konstruktivismus. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse sind heute Allgemeinwissen: „Man kann nicht nicht kommunizieren“, „Die Lösung ist das Problem“, „Von der wirklichen Wirklichkeit können wir nur wissen, was sie nicht ist“.

Watzlawicks Bücher haben überraschend Erfolg, sie werden zur Basis für seine zunehmende Vortragstätigkeit und damit zu seinem Lebensinhalt. Er wird zum gefragten Organisationsberater bei internationalen Firmen wie Shell oder Olivetti und bei der Stockholmer Regierung.

Doch es gibt auch eine andere, weit weniger bekannte Seite an diesem bemerkenswerten Mann. Seine Dissertation, geschrieben 1949 in Venedig, widmet sich einem russischen Mystiker. Und Watzlawicks erstes Buch, „Menschliche Kommunikation“, aus dem Jahr 1966, endet mit einem Zitat Wittgensteins: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Einige Jahre zuvor, 1955, war Watzlawick nach Indien gereist, um sich dort, wie er es einem Zeitungsreporter gegenüber ausdrückt, „auf die Suche nach den sagenhaften Weisheiten des mystischen Ostens zu begeben." Er lernt den Philosophen Jiddu Krishnamurti kennen und entdeckt in Bombay das Yoga – er wird es sein Leben lang praktizieren.

Und da ist dieses Radiointerview aus dem Jahr 1994. Watzlawick kommt darin auf etwas, das er als „Durchbruchserlebnis“ bezeichnet, zu sprechen: „Das Erlebnis der Todesnähe, das ist ein überaus beeindruckendes Erlebnis. Weil sich nämlich dann herausstellt, dass der unmittelbar bevorstehende Tod nichts, aber auch nichts damit zu tun hat, was wir uns vorstellen ... Es ist ein Durchbruch in eine völlig andere Wirklichkeit, in der nun die Tatsache, dass ich in ein paar Sekunden tot sein werde, gar keine Bedeutung hat.“

So kannte man ihn nicht, den großen Kommunikationswissenschaftler und Konstruktivisten. Und auch heute noch ist diese, nennen wir sie spirituelle Seite Watzlawicks, in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vorhanden. Warum? Vielleicht liegt es an der Tatsache, dass Watzlawick so selten über seine, durch das „Erlebnis der Todesnähe“ mehr oder weniger zufällig ausgelöste spirituelle Suche gesprochen hat. Die Interviews, in denen er darauf eingeht, sind rar.

Schon 1976, in seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, schreibt Watzlawick: „Die ewige Gegenwart (...) der unendlich kurze Augenblick der Gegenwart. Er stellt sowohl unser unmittelbarstes wie auch unerfassbarstes Erlebnis der Zeit dar (...) Wir können das Wesen der Zeit nicht als ,ganz, einzigartig, unbewegt, zusammenhängend‘ in Parmenides´ Sinn erfassen, außer unter höchst ungewöhnlichen Umständen und für kurze, blitzartige Momente. Zu Recht oder Unrecht werden diese als mystische bezeichnet. (...) irgendwie zeitlos und wirklicher als die Wirklichkeit.“

In einem Gespräch mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel sagt Paul Watzlawick später: „Im Zen-Buddhismus zum Beispiel geht es weniger darum, immer neuen Zielen hinterherzujagen, sondern den gegenwärtigen Augenblick bewusst zu erleben.“

Der Spiegel: „Das ist aber ganz schön schwierig.“

Watzlawick: „Das ist sogar überaus schwierig. Und deshalb wird es auch das Thema meines letzten Buches sein, eines Romans über die Entdeckung der Gegenwart.“

Der Spiegel: „Das klingt, als hätten Sie sie schon entdeckt.“

Watzlawick: „Nein, noch nicht ganz. Sonst wäre ich ein Weiser. Das bin ich aber noch nicht.“

Der Spiegel: „Haben Sie denn schon mit dem Buch begonnen?“

Watzlawick: „Nein, aber ich habe bereits den ganzen Titel. Jetzt muss ich nur noch die Geschichte dazu finden und mein Talent als Romanschriftsteller entdecken. Weil das, was ich sagen will, sich in Romanform ausdrücken ließe, aber nicht wissenschaftlich.“

Paul Watzlawick greift hier einen Gedanken auf, der ihn seit seiner Begegnung mit Krishnamurti nicht mehr losgelassen hat. Seit seinem Aufenthalt in Indien sind viele Jahre vergangen, er hat in dem Zen-Lehrer Karlfried Dürckheim einen Freund und spirituellen Mentor gefunden und er will nun noch einmal versuchen, Östliches und Westliches Denken zu verbinden: Das Verschwinden der Zeit, das Ankommen in der Gegenwart. Ein letztes Buch will Watzlawick also schreiben, einen Roman diesmal, denn er weiß, dass das, was er sagen will, nicht wissenschaftlich ausgedrückt werden kann. Er soll „Die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks“ heißen.

Doch es sollte nicht dazu kommen. Er kann seine Gedanken immer weniger kontrollieren und wird, wenn man so will, zum Gefangenen des gegenwärtigen Augenblicks. Watzlawick ist an Alzheimer erkrankt. Ein langsames Vergessen setzt ein und damit entsteht eine bisher ungekannte, wachsende Unsicherheit. Schafft er es zunächst noch, die Lücken in seinem Gedächtnis zu umspielen und zu integrieren (wie viele Alzheimer-Patienten das tun), sodass Außenstehende von seiner Krankheit nichts bemerken, muss er schließlich doch sein Büro in Palo Alto aufgeben. Er kann nun nicht mehr auf Vortragsreisen gehen, kann nicht mehr in seine Heimat Österreich fliegen. Wenige Monate später stirbt er an Herzversagen.

Andrea Köhler-Ludescher, Großnichte und Biografin Watzlawicks, erzählt: „Erst gegen Ende des Schreibprozesses für meine Watzlawick-Biografie ist mir bewusst geworden, wie tragisch sich dieses große Lebensthema Pauls aus meiner Sicht aufgelöst hat. Trotz meiner intensiven Recherche zu Onkel Pauls Leben ist dieses letzte Buch für mich immer ein Rätsel geblieben.“

Hinderte die Alzheimerkrankheit also Paul Watzlawick daran, seinen Roman zu schreiben? Oder war dieses Buch ein an sich unmögliches Unterfangen? In einem Interview mit Bernhard Pörksen sagt Watzlawick: „Die sogenannte mystische Erfahrung ist etwas gänzlich Unbeschreibliches. Schon das Etikett Mystik wird dieser Dimension von Erfahrung nicht gerecht. Man tritt aus dem Gegebenen und Vorhandenen völlig heraus und hat ein Erlebnis der Ruhe und Erfüllung und des Stimmens, das man nur nachträglich in die Sprache einer Ideologie oder Religion übersetzen kann. In dem Augenblick, in dem man beginnt, diese Erfahrung zu beschreiben, zu klassifizieren und zu begründen, hat man sie zerstört.“ Vielleicht also ist „Die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks“ ein Buch, das nicht geschrieben werden kann.

Möglicherweise aber diente Watzlawicks nie geschriebenes Buch auch als Metapher, als Bild für seine Vorstellung von einem gelungenen Leben. In einem Interview in den Salzburger Nachrichten deutete Watzlawick seine Idealvorstellung an: „Mein Ziel ist aber: kein Ziel mehr zu haben. Das geht in die Nähe des Sich-Leermachens. Ich empfinde jetzt die sogenannten großen Erlebnisse als ganz klein. Aber das Auftauchen des Neumondes, die dünne Sichel am Abendhimmel, das ist für mich immer wieder ein wunderbares Erlebnis. Fragen Sie mich nicht wieso, ich weiß es nicht. Einer Katze zuzuschauen, die spielt, wird für mich immer schöner. Das Gefühl, das ich habe, wenn ich mich todmüde im Bett ausstrecke, erlebe ich sehr intensiv.“

Paul Watzlawick hat sein Ziel gegen Ende seines Lebens wohl erreicht. Er war an einem Punkt angekommen, an dem er seinen Roman nicht mehr schreiben musste. Er lebte ihn.

 

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Andrea Köhler-Ludescher. Ihr Buch "PAUL WATZLAWICK – die Biografie" ist im Verlag Hans Huber erschienen.

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Ein neuer Leichnam