Ein neuer Leichnam

 
 

Aus dem Roman SAMMLER

Vor einem Bauernhaus, 1804

Die Kinder sahen staunend zu Johann Spurzheim hoch, der, noch immer grün im Gesicht und Gott dankend, endlich seinen Fuß auf festen Boden setzen zu können, aus der Kutsche stieg. „Zeigen Sie ein wenig Würde, Johann!“, hatte Gall ihm noch wenige Minuten zuvor geraten, nun aber rannte sein Assistent an den Schaulustigen vorbei und übergab sich über eine niedrige Steinmauer. Gall wies den Kutscher an zu warten und sah sich um. Das Bauernhaus war bescheiden aber nicht ungepflegt. Der Haufen Kinder, allesamt in zerlumpter, aber einigermaßen sauberer Kleidung, schaute ihm mit einer Mischung aus Neugierde und Ehrfurcht ins Gesicht. Das blonde Mädchen, das den Mann im Eis einbrechen gesehen hatte, stand zuvorderst. Sie rief nach ihrem Vater.

Immer noch war es aufregend für Franz Joseph Gall, einen neuen Leichnam zu Gesicht zu bekommen. Wie würde aussehen? Wie alt war er? War er wirklich unversehrt? Auf die Angaben der Finder war diesbezüglich oft kein Verlass, gerade den Begriff der Unversehrtheit schienen die meisten großzügig auszulegen. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass eine schöne Leiche mehr wert war. „Unversehrt? Für eine, die von der Kutsche überrollt wurde, mag sein!“, hatte Gall einmal empört ausgerufen, als er vor einer Toten mit zertrümmerter Schädeldecke gestanden hatte, von der ihm erzählt worden war, sie sei friedlich im Bett eingeschlafen. 

Der Bauer trat ins Freie. Inzwischen hatte sich auch Spurzheim etwas beruhigt und sein Gesicht hatte wieder eine gesündere Farbe angenommen. Der Mann verneigte sich ehrerbietig und bat die beiden Herren herein. Die Kinder mussten draußen warten. Auf einem Tisch in der Mitte des Raums lag der Ertrunkene. Er hatte schon zu riechen begonnen, nur der Duft der Kuh, die im hintersten Eck stand und friedlich wiederkäute, übertünchte den Gestank ein wenig. Eine Kerze brannte und durch die kleinen Fenster, vor denen sich die Kinder drängten, fiel nur wenig Licht. Gall ging ohne Umschweife auf den Leichnam zu und sah auf ihn hinab. Sein Schädel schien tatsächlich intakt, er war markant geformt und von schütterem, kupferrotem Haar nur spärlich bedeckt. Gall trat hinter ihn, schloß die Augen – so konnte er sich besser konzentrieren – und begann, mit beiden Händen, den Kopf zu betasten. Seine Finger glitten vorsichtig über die bläuliche Haut und das noch feuchte Haar.

„Ruse. Schlau war er. Hinterlistig, könnte man sagen. Ah, hier... compassion, douceur kaum vorhanden.“  Spurzheim notierte alles, was sein Herr sagte, eifrig in ein ledergebundenes Büchlein. Gleichzeitig übersetzte er flüsternd für den staunenden Bauern. „Hatte kein Mitleid.“ 

Gall sprach weiter. „Instinct de la défense de soi-même et de la propriété hingegen deutlich zu spüren.“ „Der Selbstverteidigungsinstinkt“, flüsterte Sturzheim. „Wohl eher der Raufsinn“, besserte Gall ihn aus. „Eine üble Eigenschaft, aber durchaus verbreitet unter den einfachen Leuten.“ 

Er tastete. „Ha! Hier haben wir ihn ja! Schreiben Sie, Johann: Instinct carnassier deutlich ausgeprägt.“ Spurzheim neigte sich dem Bauern zu. „Der Tötungssinn!“

*

Es war Johann Spurzheim, der vorsichtig die Säge am Hals des Mannes ansetzte. Er atmete ruhig und seine Hand zitterte nicht, obwohl er deutlich fühlte, dass er beobachtet wurde. Franz Joseph Gall hatte sich von Anfang an vorgenommen, diesmal seinem Assistenten die unangenehme Aufgabe der Entfernung des Kopfes zu überlassen. Durchaus eine Ehre in seinen Augen, denn Spurzheim hatte so Gelegenheit, sich endgültig zu beweisen. Bisher hatte er sich recht gut gemacht, im Labor, mit den Säurebädern, den oftmals übelriechenden Überresten seiner Studienobjekte, und hatte auch ein gewisses künstlerisches Talent aufgezeigt, wenn es darum ging, die Lebendmasken wichtiger (und nicht selten eitler) Kundschaft in Büsten zu verwandeln, mit Hals, Schultern und Haaren, und dabei ein wenig zu verschönern. Auch in der Craniologie selbst, der gewissenhaften Interpretation der Ausformungen an den Totenschädeln, machte er Fortschritte. Und dass er jetzt diesen Leichnam aufgetrieben hatte, hielt ihm Gall ebenfalls zugute.

 „Wir nehmen ihn“, hatte Gall den Bauern wissen lassen. Freilich nur den Kopf, für den Rest habe er keinerlei Verwendung. Und der Bauer hatte geantwortet, dass er nicht verstünde und lachend gemeint, er könne ja den Kopf nicht abschneiden und Gall hatte daraufhin geantwortet, er nicht, nein. „Aber wir.“ Dann hatte er die Säge aus seinem Koffer geholt und der Bauer war blass geworden, hatte sich bekreuzigt und die Vorhänge vor die Fenster gezogen.

Nun stand Johann Spurzheim vor dem Tisch, drückte den feuchten Kopf des Toten mit seiner Linken auf die Tischplatte und schob mit seiner Rechten vorsichtig das feinzackige Sägeblatt über die schon etwas ledrige Haut am Hals. Unter dem Adamsapfel, dort musste er den Schnitt ansetzen und dann ohne viel Druck, aber auch nicht zu sanft, durch das Gewebe schneiden. Dann würde er irgendwann den Knorpel der Luft- und dann die Speiseröhre durchtrennt haben und schließlich auf die Wirbelsäule stoßen, wo die richtige Arbeit erst beginnen würde. „Nur zu, Johann.“ Gall blickte ihn aufmunternd an, während er seine Hände an einem Leinentuch trocken rieb. „Seien Sie nicht schüchtern. Es ist nicht schwerer als den Ast eines Kirschbaums abzuschneiden. Eher einfacher.“

„Wie viel?“ Der Bauer unterbrach die angespannte Stille und Spurzheim nahm die Säge wieder hoch. „Was zahlen Sie mir für den Toten?“

„Drei Gulden“, antwortete Gall.

„Drei? Ich dachte eher an fünf, mein Herr.“

„Sie scheinen zu vergessen, dass hier ein Kinderschänder liegt. Ein durch und durch gottloser, widerwärtiger Charakter. Wenn ich ihn nicht nehme, wird man ihn in einer Grube vor dem Friedhof verscharren und Sie gehen leer aus. Drei Gulden sind angemessen.“ Gall wandte sich wieder Spurzheim zu. „Fahren Sie fort, Johann.“ 

Spurzheim setzte die Säge wieder an und drückte die Zacken ins Fleisch. Das Blatt glitt sanft durch das Gewebe. Es würde ein sauberer Schnitt werden.

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Paul Watzlawicks nie geschriebenes Buch oder die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks

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Der Exorzismus