Chalino Sánchez

Geboren in einem kleinen Dorf, wächst Chalino Sánchez als Sohn einfacher Bauern im Bundesstaat Sinaloa auf. Die Ereignisse, die seine Flucht nach Los Angeles erzwingen, sind wohl wegweisend für sein weiteres Leben. Chalino ist noch ein Kind, als seine Schwester von einem Mann namens El Chapo Perez vergewaltigt wird. Er schwört Rache und – wartet. Einige Jahre später trifft er Perez auf einem Fest wieder. Wortlos (so heißt es später) schießt Chalino ihn nieder und muss 1977, gerade einmal 17-jährig, zu seiner Tante nach Los Angeles fliehen. Dort schlägt er sich zunächst als Erntehelfer auf Farmen durch und lässt sich schließlich in Inglewood, einem der mexikanischen Immigrantenvororte, die sich zu dieser Zeit rund um Los Angeles bilden, nieder. Er nimmt Gelegenheitsarbeiten an, verdingt sich als Abwäscher, Autoverkäufer, zeitweise auch als Drogendealer. Nebenbei hilft er seinem älteren Bruder Armando, Menschen über die Grenze zu schmuggeln. Diese Tätigkeit endet 1984, als Armando aus ungeklärter Ursache in einem Hotel in Tijuana erschossen wird.

Chalino heiratet die Mexikanerin Marisela Vallejo, eine Arbeitskollegin seiner Tante. In diesem Jahr schreibt Chalino auch seinen ersten Corrido, der den Tod seines Bruders zum Inhalt hat. Niemand weiß, warum er einen zweiten und dritten schreibt, jedenfalls ist in den Cantinas von L.A. bald bekannt, dass Chalino Corridos auf Anfrage liefert. Als Bezahlung akzeptiert er neben Geld auch Wertgegenstände wie Golduhren und – mit besonderer Vorliebe – Schusswaffen. Das Geschäft beginnt zu florieren, und Chalino beauftragt eine lokale Band, seine Kompositionen im Studio einzuspielen. Die Gruppe verzögert die Fertigstellung und so beschließt er, als seine Kunden nicht länger auf die bestellten Bänder warten wollen, mehr aus Not als aus Leidenschaft, selbst zu singen. Von diesem ersten Tape – 15 Songs ohne Titel – verkaufen sich nicht mehr als 15 Kopien, ähnlich gering ist der Erfolg der zweiten Einspielung. Die dritte Kassette aber bringt den Durchbruch. Immer mehr Kunden verlangen nach Kopien für Freunde und Verwandte. Chalino hat den Nerv seiner Zeit getroffen. Seine Corridos handeln vom gewalttätigen Leben in den Dörfern Sinaloas, von den Campesinos und Rancheros, von Familienfehden, bezahlten Morden, Korruption und von denen, die sich – arm, aber unabhängig, hart aber gerecht – gegen das politische System auflehnen und nur ihre eigenen Gesetze befolgen. Die mexikanische Arbeiterklasse in Los Angeles erkennt sich und ihr Schicksal in den Texten wieder, und alle wissen, dass mit den neuen Rebellen nur die Drogenbarone gemeint sein können.

Chalino Sánchez, der Anti-Star, ist anders als die anderen mexikanischen Musiker. Er ist wild, ungehobelt, roh, aber geradlinig, spricht wie ein Bauer und sagt von sich selbst: “Ich singe nicht, ich belle!“ Er ist ein Mann des Volkes, er ist der harte, erdige Valiente und stets hält er die Nähe zu seinem Publikum aufrecht. Die Stars der alteingesessenen mexikanischen Musikindustrie hingegen sind lebensfremd, abgehoben und unnahbar. Chalino ist kein Entertainer – er ist echt. Seine Kassetten werden auf Tauschmärkten, an Tankstellen oder direkt vom Lastwagen vertrieben. Es gibt weder Management noch Public Relations, die Radiostationen boykottieren seine Musik, doch als Jugendliche beginnen, Chalino‘s Corridos in Los Angeles, Las Vegas, Tijuana und Guadalajara aus ihren Autos dröhnen zu lassen, während sie die Boulevards abfahren, ist der Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Chalino braucht nun kein Radio mehr. Seine Konzerte sind ausverkauft.

Auch jenes in Coachella, einer Latino-Kleinstadt nahe Palm Springs, wo Chalino am 20. Jänner 1992 auftritt. Kurz vor Mitternacht, Chalino spielt gerade eine Zugabe, springt der 33-jährige Arbeitslose Eduardo Gallegos, betrunken und unter Drogeneinfluss, auf die Bühne und feuert aus kurzer Distanz auf den Sänger. Chalino, der nie unbewaffnet eine Bühne betritt, schießt sofort zurück und flieht ins Publikum. Eine Schießerei bricht los. Mindestens fünf Zuschauer und ein Bandmitglied werden verletzt. Ein 20-jähriger Mexikaner verblutet am Weg ins Spital. Der Attentäter wird aus seiner eigenen Waffe in den Mund getroffen und stirbt ebenso.

Chalino‘s Ruf als harter Kerl steht nun endgültig fest. Die Plattenverkäufe schnellen in die Höhe und sogar die Radiostationen spielen nun ein Lied von Chalino (ein Liebeslied allerdings, keinen Corrido). Der Zwischenfall scheint jedoch Spuren bei Chalino hinterlassen zu haben. Er trennt sich von seiner preisgekrönten Schusswaffensammlung und er ordnet sein Leben. Die Rechte an seinen Songs verkauft er – sein vielleicht größter Fehler – für den lächerlichen Betrag von $ 115.000.- an Musart-Records, ohne Rechte auf Tantiemen festzulegen. (Diese Tantiemen wären heute mehrere Millionen Dollar wert – Chalino‘s Witwe Marisela ist auf die Hilfe von Verwandten angewiesen, um überleben zu können.) Chalino lässt sich nun von einer professionellen Firma promoten.

Trotz einiger Morddrohungen tritt er nach kurzer Zeit wieder auf. Nach einer fulminanten Show in Culiacán, Sinaloa, verlässt er gemeinsam mit seinem Bruder Espiridion, einer Bekannten und einigen ihrer Verwandten den Club und steigt in sein Auto. Das Fahrzeug wird wenig später von bewaffneten, als Polizisten verkleideten Männern angehalten. Sie nehmen Chalino mit. In den Morgenstunden des 16. Mai 1992 finden zwei Bauern den Leichnam des 32-jährigen Sängers in einem Abwasserkanal. Chalino war durch zwei Schüsse in den Hinterkopf getötet worden. Warum Chalino Sánchez ermordet wurde, ist bis heute ungeklärt. Nach Chalino‘s Tod, heißt es allgemein, war nichts mehr, wie es vorher gewesen war.

Als die Tat publik wurde, trauerte das Volk. Eine wahre „Chalinomania“ ergriff die Mexikaner von Los Angeles bis Sinaloa. Hatte die Schießerei in Coachella Chalino‘s Unterwelt-Credibility gefördert, so machte ihn sein Tod nun zum Mythos. Überall war seine Musik zu hören, seine Platten wurden (mit anderen Sängern aufpoliert) neu aufgelegt und fanden rasenden Absatz. Und eine Art “Sinaloisierung“ von L.A.´s mexikanischer Kultur setzte ein – aus Sinaloa zu stammen, möglichst mit Verbindung zur Drogenwelt, war plötzlich angesagt. (Keine Region hat mehr Drogenbosse hervorgebracht als Sinaloa.) Ein neuer Kleidungsstil entwickelte sich, indem mexikanische Jugendliche in Los Angeles, die mit Hip-Hop groß geworden waren und selbst breitesten L.A.-Akzent sprachen, plötzlich Cowboystiefel, exotische Gürtelschnallen, Goldschmuck und Cowboyhüte trugen, zu Polkas tanzten und Corridos hörten.

Bald kamen die Chalinitos, eine Hundertschaft junger Männer, die ins Musikbusiness drängten und versuchten, wie ihr Idol Chalino zu singen, sich zu kleiden und zu bewegen. Sie stritten sich darum, wer der schlechtere Sänger sei. Viele von ihnen waren echte L.A.-Kids – nun folgten sie wieder den Wurzeln ihrer Vorfahren. Die Musik, die einst für hinterwäldlerische, zutiefst arme Ländlichkeit gestanden hatte, repräsentierte plötzlich die topaktuelle Coolness.

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Eichhörnchen vs. Grauhörnchen

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Miguel Luna, Komponist & Sänger