Jesús Malverde - Der Heilige der Drogenhändler

In Mexiko ist im Schatten der einflussreichen Drogenkartelle während der vergangenen Jahrzehnte eine neue Kulturform entstanden. Sie findet in einem eigenen Kleidungs-, Architektur- und vor allem Musikstil – den Narcocorridos – Ausdruck und hat, von den kleinen Bergdörfern Mexikos ausgehend, längst die lateinamerikanische Bevölkerung der großen Städte Nordamerikas erobert. Während sich die Berichterstattung über den aktuellen mexikanischen Drogenkrieg in den Medien großteils auf die Wiedergabe von Mordstatistiken und die Beschreibung von Gräueltaten beschränkt, wird die kulturelle Dimension der mexikanischen Drogenproblematik weitgehend ignoriert. Dabei hat die sogenannte Narcocultura – es wäre sonst wohl nicht Mexiko – auch eine starke religiöse Dimension. Jesús Malverde, ein Bandit aus der Zeit der Mexikanischen Revolution, gilt als der Heilige der Drogenhändler.

Es ist unklar, ob Malverde wirklich jemals gelebt hat, historisch schlüssige Beweise fehlen. Der Legende nach wurde er vor hundert Jahren, am 3. Mai 1909, in Culiacán, Sinaloa, gehängt. Über die Ereignisse, die zu seinem Tod führten, existieren mehrere Versionen. Die Geschichte, die die weiteste Verbreitung gefunden hat, ist jene, nach der Malverde von einem Pfeil am Fuß verwundet wurde und an Blutvergiftung erkrankte. Selbstlos bat er einen Freund, ihn der Polizei auszuliefern, die Belohnung zu kassieren und diese unter den Armen zu verteilen.

1870 in dem kleinen Dorf Mocorito geboren, hatte Malverde sein ganzes Leben lang die Reichen beraubt und seine Beute an Bedürftige abgegeben. So galt „El Bandido Generoso“ (Der großmütige Bandit) bald nach seinem Tod als Märtyrer der sozial Ausgestoßenen, der Erniedrigten und Gedemütigten, der Banditen, Mörder und Prostituierten. Und er begann Wunder zu wirken, rettete Fischer vor dem Ertrinken und brachte Bauern verloren geglaubte Tiere zurück. Der Kult um Malverde breitete sich von Sinaloa bis in die mexikanischen Viertel US-amerikanischer Städte aus.

Rebellion gegen die Obrigkeit war in Sinaloa schon immer unterstützt worden, und so war es nur naheliegend, dass Jesús Malverde, der gesetzlose, unbeugsame „Ángel de los Pobres“ (Engel der Armen) zum Vorbild jener wurde, die in vielen, vom Staat vernachlässigten Provinzen Mexikos für die nötige Infrastruktur, den Bau von Straßen, Schulen und sogar Krankenhäusern sorgen, und die ebenfalls das Image der Unbeugsamkeit genießen – zum Heiligen der Drogenhändler. Inzwischen stehen in ganz Mexiko Malverde-Kapellen, gestiftet von einem der Kartellbosse, ihrem Heiligen gewidmet. Auf jeder Marihuana-Plantage gibt es, so sagt man, einen Altar zu Ehren Jesus Malverdes.

Das Zentrum der Verehrung ist heute eine Kapelle in Culiacán, wo ein Schrein mit Malverdes Büste – seine Gebeine wurden von einem Freund an unbekannter Stelle begraben – zur Schau gestellt wird. Diese Büste wurde von einem Bildhauer erschaffen, indem er die Gesichter zweier mexikanischer Schauspieler und Nationalhelden – Pedro Infante und Jorge Negrete – zu einem einzigen vereinte.

Capilla Jesús Malverde

Der Erbauer und selbsternannte Kaplan der Kapelle, Eligio Gonzales, saß bis vor kurzem tagein, tagaus in seinem Schaukelstuhl vor dem Eingang, übersah geflissentlich polizeilich gesuchte Persönlichkeiten, hörte sich die Leidensgeschichten der Pilger an, die seines Rats bedurften und verteilte Essen an die Ärmsten unter den Gläubigen. An die 10.000 Begräbnisse soll er organisiert und samt Särgen bezahlt, mehr als 600 Rollstühle verschenkt haben.

Ihm ist natürlich ein eigener Corrido gewidmet. Das Lied erzählt von dem Vorfall, der Gonzales 1973 dazu brachte, mit eigenen Händen eine Kapelle aufzubauen: Als er überfallen und von vier Schüssen niedergestreckt wurde.

Corrido de Eligio Gonzales

(Los Cadetes de Durango)

Muy mal herido en el barro, Eligio se desangraba.

Casi más muerto que vivo lo llevan pa‘ Tierra Blanca.

Pero un milagro del cielo quiso que nada pasara.

Eligio ya se alivió, y aquí no ha pasado nada.

Ahora es encargado de la tumba de un valiente

que robada pa‘ los pobres, de nombre Jesús Malverde.

Schwer verwundet lag Eligio blutend im Schlamm,

mehr tot als lebendig trugen sie ihn in die Tierra Blanca.

Aber ein Wunder des Himmels wollte, dass nichts passierte.

Eligio erholte sich als wäre nichts geschehen.

Jetzt kümmert er sich um die Gruft eines mutigen Mannes

der für die Armen raubte, mit Namen Jesús Malverde.

Eligio Gonzales, Erbauer und Kaplan der Kapelle

Eine Banda singt den Corrido de Eligio Gonzales

Als Malverdes Kapelle Mitte der 1970er-Jahre abgerissen werden sollte, waren die Proteste der Bevölkerung so heftig, dass die Regierung die Umsiedlung des gesamten Gebäudes beschloss. Auch von mysteriösen Unfällen und rätselhaften Krankheiten, die die Verantwortlichen heimsuchten, ist die Rede.

Malverdes Kapelle steht heute gegenüber dem Rathaus im Zentrum Culiacáns. Im Inneren der Kapelle bringen Bauern, Fischer, Kranke und Behinderte ihre Opfergaben dar. Geflochtene Haarsträhnen, Getreidebündel, falsche Zähne, Beinprothesen und eine voll funktionstüchtige AK-47 liegen beim Altar. Die Wände sind geschmückt mit steinernen, mitunter marmornen, goldumrandeten Tafeln, die die Dankbarkeit der Gläubigen ausdrücken: Eine geheilte Krankheit, ein reicher Fischzug und natürlich, eine Spezialität dieses Heiligen, die Entlassung aus dem Gefängnis oder der positive Ausgang eines, diskreter Weise nicht näher beschriebenen, Geschäfts im Ausland. Emigranten erbitten vor ihrem illegalen Grenzübertritt Beistand von Malverde, andere führt der erster Weg nach ihrer Rückkehr in die Heimat zur Kapelle. Alleingelassene Frauen und Kinder beten, Malverde möge ihre Männer und Väter zurückbringen, andere hoffen, mit seiner Hilfe immerhin verlorenes Vieh wiederzufinden.

Die Atmosphäre ist für eine Pilgerstätte ungezwungen, man trinkt Bier, lacht und singt - bloß Waffen mitzunehmen ist nicht gestattet. Vor der Kapelle werden an Ständen Souvenirs zum Kauf angeboten, Bildchen mit Malverdes Antlitz, kleine Statuetten, Baseball-Kappen. Eine Banda spielt gegen Bezahlung Corridos, und obwohl die Tarife horrend sind, lässt die Nachfrage den ganzen Tag über nicht nach – es heißt, man müsse Malverde ein Lied widmen, um sich gut mit ihm zu stellen.

Im Jahr 2009 ist Eligio Gonzales verstorben. Sein Sohn Juan Manuel hat seine Agenden – und den Schaukelstuhl – übernommen. Mit dem Tod Eligio’s scheint aber auch die beste Zeit der klassischen Narcocultura, mit ihren weißen Stetsons, den gefälschten Versace-Hemden und Stiefeln aus Straussen- oder Krokodilleder, vorüber zu sein.

Sie musste einer neuen Strömung Platz machen, dem Nuevo Stilo, mit neuen Helden und neuen Mythen.

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Brief meiner Ururgroßmutter an ihr zukünftige Schwiegertochter

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